Eine Frau, Namens Bellis Perennis, künftig Bellis genannt, nicht mehr jung, aber auch nicht alt, ging eines Tages allein spazieren und ihr Weg führte sie an einen See. Am Rande des Sees war eine Bank, dort setzte sie sich hin. Sie war nicht glücklich, aber auch nicht ganz unglücklich. Eine Traurigkeit hatte sie befallen. Wie sie so da saß und auf den See schaute und doch den See irgendwie gar nicht sah, wuchs vor ihr ein mittelgroßer Scherbenhaufen an und daneben stand plötzlich ein Wutzel.
„Hallo Du“, sprach er Bellis an, „schau genau hin, das ist Dein Leben!“ Bellis schaute den Wutzel an und den Scherbenhaufen und sah Scherben in den unterschiedlichsten Farben. Auch viele graue und schwarze Scherben waren dabei. Sie sah wieder Wutzel an und fing an zu weinen. Sie weinte so viel, dass zwischen diesem Scherbenhaufen ein kleiner rinnender Bach entstand. Wutzel stand da und sagte nichts. Mittlerweile hatte sich schon die Sonne erheblich gesenkt und ein leichter Wind kam auf. Schließlich versiegte der Tränenstrom von Bellis und sie warf mit gequollenen Augen einen Blick zum Wutzel und sah, dass er lächelte. Das konnte Bellis gar nicht verstehen. Da fing Wutzel plötzlich wieder an zu sprechen.
„Ja“, sagte er, „ich werde Dir nun erzählen, was es mit den Scherben auf sich hat. Die dunkelgrauen Scherben sind die Momente, in denen man Dir weh getan hat, Dich verletzte.
Das mochte Bellis gar nicht hören und sie sprach: „Mich interessiert besonders, was die schwarzen Scherben bedeuten“. „Oh, eigentlich wollte ich Dir davon erst am Schluß erzählen. Aber gut, Du willst es nicht anders. Die schwarzen Scherben“ sprach der Wutzel, „sind die Momente, in denen Du böse warst, schlechte Gedanken hattest, dumm warst und verantwortungslos gehandelt hast, wo Du einfach dem Bösen in Dir gefolgt bist“. Während Wutzel diese Worte sprach, wurde seine Stimme immer lauter und energischer. Bellis empfand jedes Wort als einen Peitschenhieb und zuckte jedes Mal zusammen. „Die blauen Scherben sind die Momente, an denen Du immer wieder versucht hast den Sinn des Lebens zu ergründen und wo Du Dich bemühtest, Deinem Leben eine Richtung zu geben, die Dir sinnvoll erschien.
Doch die lilafarbenen Scherben sind jene Momente, die Dich daran hinderten, die immer wieder dafür sorgten, daß Du wieder alles verworfen hast. Da sind auch ein einige gelbe Scherben, das sind die Momente, in denen Dir Menschen begegnet sind, die mit Dir seelenverwandt waren und oft hast Du es nicht bemerkt, manchmal fühltest Du Dich magisch angezogen. Sie haben manchen Stein in Deinem Leben zum Rollen gebracht. Sie sind auch Momente mit Deiner Familie, Freunden und ganz besonders mit Deinen Kindern. Sie symbolisieren die sonnigen Momente Deines Lebens“.
In diesem Augenblick rollte Bellis eine Träne die Wange herunter und lächelnd wischte sie sich diese mit dem Handrücken weg. Es war eine Freudenträne, die sich einfach nach draußen drängte, weil sie nicht anders konnte, bei solch schönen sonnigen Gedanken, die Bellis bekam, während der Erläuterungen von Wutzel.
Aber dieser gab den Gedanken gleich eine andere Richtung, in dem er sprach: „Die türkisfarbenen Scherben sind für die Momente, an denen Du aus reinem Egoismus gehandelt hast, ohne darüber nachzudenken, was Du damit Deinen Mitmenschen antust“. Bellis schaute instinktiv mit den Augen den Scherbenhaufen nach türkisfarbenen Scherben ab und war erleichtert, dass es nicht sehr viele davon gab. Dabei fielen ihr orangefarbene Scherben auf und so fragte sie nach deren Bedeutung. „Diese Scherben sind die Momente, in denen Du strebsam warst, fleißig, engagiert und organisiert hast, immer mit dem Ziel, Freude zu machen“. Bellis bedauerte es, daß es davon nicht viele viele Scherben gab.
Schon setzte Wutzel seine Erläuterungen fort und erklärte die Bedeutung der pinkfarbenen Scherben. „Diese Scherben sind die Momente, in denen Du einen Schatz betrachtet hast, der Schatz der Dir Deine Träume brachte, viele wunderschöne Träume, die Du mit manchen anderen Menschen geteilt hast“. Bei diesen Worten mußte Bellis lächeln. „Die roten Scherben“ fuhr Wutzel fort, „sind die Scherben der Momente, in denen Du voll Liebe warst und manchmal strömte sie so aus Dir heraus, daß Du gar nicht wirklich wußtest, wohin damit“. „Siehst Du“, sagte Wutzel, „diese klitzekleinen roten Scherbchen, das symbolisiert die Liebe, die in Deinem Herzen keinen Platz mehr fand, weil es schon überfüllt war. Liebe war auch für Dich immer der Antrieb niemals aufzugeben. Liebe zum Leben. Liebe zur Natur. Liebe zu den Menschen. Liebe zu Dir selbst. Liebe – immer wieder, trotz aller Enttäuschungen.“ Die Stimme von Wutzel bekam einen besonders weichen Klang, als er diese Worte aussprach. Bellis durchströmte ein warmes Gefühl und sie bekam leuchtende Augen. Eine kleine Sprach- und Gedankenpause trat zwischen beiden ein. Dann sagte Bellis: „Aber welche Bedeutung haben denn diese wunderschön glitzernden diamantartigen Scherben“ und schaute erwartungsvoll Wutzel an. Wutzel räusperte sich und wurde ganz ernst, ja irgendwie strahlte er etwas Feierliches aus. „Das sind die Momente, in denen Du kleinen und größeren Wundern begegnet bist und das sind die Momente, in denen Du nicht aufgehört hast, an das Gute zu glauben. Es sind die Momente, die Dir den Schlüssel zum Glück in die Hand gaben. Es sind die Momente, wo Du den Sinn des Lebens begriffen hast, es sind die Momente, wo Du jemanden verzaubert hast“.
Kaum hatte Wutzel das letzte Wort ausgesprochen, war er plötzlich verschwunden und der Scherbenhaufen auch. Bellis machte die Augen auf und wieder zu und wieder auf und nahm ihre Umgebung richtig wahr. Der See, die Bäume ringsherum und das Gras, hörte die Vögel zwischern, Grillen zirpsen und Bienen summen und sah einen Schmetterling auf einem Gänseblümchen sitzen. Bellis fühlte sich wie neugeboren und wollte aufstehen und nach Hause gehen, da sah sie etwas klitzern, wie ein Diamant. Sie bückte sich und hob einen ganz winzigen kleinen Kieselstein auf, der so wunderschön glitzerte. Bellis lächelte, steckte ihn in die Jackentasche und ging beschwingt nach Hause. In ihrer Wohnung angekommen stand sie vor einem großen Spiegel und schaute intensiv und kritisch hinein: Was sie sah, war ein Mensch, dessen Eigenschaften auf einer Waage nicht immer im Gleichgewicht stehen würden, aber Bellis lächelte sich mutig zu und sagte laut zu ihrem Spiegelbild: Wir schaffen das schon, dass das Gute überwiegt und für einen kurzen Augenblick meinte sie Wutzel im Spiegelbild zu erkennen, der freudig die Hände aneinanderrieb. Beim nächsten Wimpernschlag schien ihr das aber eine optische Täuschung gewesen zu sein. Fröhlich setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an ihre Gedanken ins Tagebuch zu schreiben :-).
(c) I. Frees
25. Mai 2010
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